Auf den Energiemärkten wird voraussichtlich nichts mehr so sein, wie es einmal war. Da sind sich die Experten von BCG sicher. Auf dem Weg zu einer Netto-Null-Zukunft werde sich die Funktionsweise der Stromwirtschaft fundamental wandeln, heisst es in ihrer Studie «Five Forces Transforming Power Markets». Und mehr noch: «Die Veränderungen – von denen viele bereits im Gange sind – werden mit dem wachsenden Anteil der erneuerbaren Energien am globalen Stromerzeugungsmix noch ausgeprägter werden.»
Folgt man den Angaben der Internationalen Energieagentur und ihrer Roadmap «Net Zero by 2050» werden Photovoltaik und Windkraft bis Mitte des Jahrhunderts bereits 72 Prozent der Stromerzeugung ausmachen, verglichen mit 11 Prozent im Jahr 2020. Dies dürfte enorme Auswirkungen auf sämtliche Marktakteure haben – auch was die Gestaltung der Energiepreise angeht. «Um sich angemessen auf das globale Energiesystem von morgen vorzubereiten, müssen die Akteure verstehen, wie sich die Dynamik des Strommarkts heute entwickelt», betonen die Autoren der Studie. Sie haben zu diesem Zweck im BCG-eigenen Center for Energy Impact verschiedene Modelle und Szenarien entwickelt.
Zwei zentrale politische Initiativen bilden die Grundlage ihrer Annahmen: die Verpflichtung der Europäischen Union, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent (gegenüber 2021) zu senken, und ihr Ziel, bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen. Obwohl der Schwerpunkt der BCG-Analyse hauptsächlich auf Nordwesteuropa liegt, sei davon auszugehen, dass «einige dieser Entwicklungen auch in den meisten anderen liberalisierten Märkten weltweit zutreffen werden», heisst es. Konkret haben die Expertinnen und Experten fünf treibende Kräfte identifiziert, die die Strommärkte im Zuge der Energiewende – und darüber hinaus – prägen werden:
Trend zu Fixkosten
Angetrieben durch den Ausbau der erneuerbaren Energien wird sich die Stromerzeugung zunehmend weg von variablen hin zu fixen Kosten bewegen. Laut Studie könnten bis zu 85 oder 90 Prozent der gesamten Erzeugungskosten künftig fix sein, verglichen mit aktuell etwa 65 bis 70 Prozent. Der Grund: Windkraft- und Solaranlagen verursachen im Unterschied zu Kohle- oder Gaskraftwerken im Betrieb keine Kosten, von Wartungsarbeiten abgesehen. Wind und Sonne gibt es gratis, fossile Energieträger nicht.
Kostenloser Strom
Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Strom künftig oft kostenlos sein wird. Perioden, in denen die Strompreise «relativ niedrig oder sogar nahe null sind», dürften nach Voraussage der BCG-Experten deutlich häufiger auftreten. «20 bis 25 Prozent der Zeit im Jahr werden die Preise unter 20 Euro pro Megawattstunde liegen, verglichen mit 5 bis 10 Prozent heute.»
Ausnahmen bei hoher Nachfrage
Das gilt allerdings nicht für jene Perioden, in denen Energie am meisten gebraucht wird. Obwohl Solar- und Windkraftanlagen zunehmend die Strompreise bestimmen, wird die thermische Stromerzeugung weiterhin eine zentrale Rolle spielen – und in kritischen Zeiten die Preise nach oben ziehen. Denn die Einnahmen in den wenigen Stunden, in denen diese Kraftwerke laufen, reichen oft nicht aus, um deren Fixkosten zu decken.
Höhere Preise im Winter
Deutlich grösser dürften die Preisunterschiede zwischen Sommer- und Wintermonaten werden. Im Jahr 2050, wenn die EU-Staaten klimaneutral sein wollen und entsprechend viel Erneuerbare im Netz sein sollen, könnten die Strompreise im Winter bei naturgemäss niedriger Erzeugung von Solarstrom laut der Studie um 40 bis 100 Prozent höher liegen als im Jahresdurchschnitt.
Stärkere Preisschwankungen
Die verstärkte Nutzung von Solar- und Windenergie wird den Experten zufolge zu einer grösseren Preisvolatilität führen. Dieser sogenannte Volatility Vortex («Volatilitätswirbel») könnte sich innerhalb eines Tages bis 2030 im Vergleich zum Vorkrisenniveau im Jahr 2019 möglicherweise verdoppeln. Die Erklärung für die Schwankungen ist einfach: Ein immer grösserer Anteil an erneuerbaren Energien im Stromerzeugungsmix führt zu längeren Zeiträumen, in denen man sich auf Sonnen- und Windenergie verlassen kann. Die Strompreise werden in diesen Zeiten stark sinken. Ebenso wird es aufgrund ungünstiger Wetterbedingungen aber immer noch Zeiten mit sehr geringer Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien geben. Einspringen müssen dann etwa Gaskraftwerke, die laut Studie «in mehreren nordwesteuropäischen Märkten um 2040 bis 2050 immer noch zu 10 bis 25 Prozent der Zeit den Preis bestimmen, selbst wenn sie nur einen geringen Anteil am Erzeugungsmix haben».
Der Volatilitätswirbel wird das Aktionsumfeld für Energieunternehmen, einschliesslich der Produzenten, Versorger und Händler, grundlegend verändern. Herkömmliche Geschäftsmodelle reichen dann angesichts der Marktdynamik nicht mehr aus. Der Studie zufolge müssen die Unternehmen ihre Fähigkeiten, Systeme und auch die Rahmenbedingungen für ihr Risikomanagement neu bewerten, um wettbewerbsfähig und resilient zu bleiben. Antti Belt, Managing Director und Partner bei BCG in Helsinki, bringt es so auf den Punkt: «Die Intraday- Energiemärkte verlangen mehr als nur schnelle Reaktionen – sie erfordern Echtzeitdaten, intelligente Algorithmen und eine präzise Ausführung. Der Erfolg des Handels hängt jetzt davon ab, dass man Volatilität in Marge umwandelt und nicht nur das Risiko verwaltet.»