Wasser ist kostbar. Das lernte Omar Yaghi schon als Kind in Jordanien. Zusammen mit seiner Familie lebte er in einem ärmlichen Haus ohne Wasserleitung. Nur alle zwei Wochen war in der Nachbarschaft Wasser verfügbar. Yaghi musste es dann am frühen Morgen holen.
Ein halbes Jahrhundert später wird Omar Yaghi der Nobelpreis für Chemie verliehen – und das hat eine Menge mit der knappen Ressource Wasser zu tun. Denn der Wissenschafter hat massgeblich mitgewirkt an der Entwicklung von Materialien, in deren Poren sich Wasser, Kohlendioxid und andere Substanzen speichern lassen. Diese Materialien, so die Hoffnung, könnten in Zukunft helfen, viele Probleme im Umwelt- und Klimaschutz zu lösen.
Yaghi wird sich den Preis teilen mit dem gebürtigen Briten Richard Robson, der an der University of Melbourne in Australien forscht, und Susumu Kitagawa, der an der Universität Kyoto in Japan tätig ist. Das gab die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften am Mittwoch in Stockholm bekannt.
Doch der Jordanier, der inzwischen auch die saudiarabische und die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, ist den weitesten Weg hin zu einer praktischen Anwendung gegangen – er hat dazu sogar zwei Startups gegründet.
Aus ärmlichen Verhältnissen in Jordanien nach Amerika
Geboren wurde Omar Yaghi am 9. Februar 1965 in der jordanischen Hauptstadt Amman, in eine palästinensische Flüchtlingsfamilie. Er sei ein introvertiertes Kind gewesen, erzählte der Wissenschafter in einem Interview. Er habe gerne gelesen und geschrieben und seine Umwelt intensiv beobachtet.
Als Yaghi 15 Jahre alt war, flog er auf Anregung seines Vaters in die USA, um dort in die Schule zu gehen – obwohl er damals noch kaum Englisch sprach. Doch das lernte er schnell.
Als Kind in Jordanien, so erzählt es Yaghi gerne bei Vorträgen, sei er einmal in einer Bibliothek auf ein Buch gestossen, in welchem die Strukturen organischer Moleküle abgebildet gewesen seien. Diese Formen hätten ihn schon damals fasziniert. Von daher erstaunt es nicht, dass er in Amerika Chemie studierte, zunächst an der University at Albany, später an der University of Illinois Urbana-Champaign, wo er auch seine Doktorarbeit schrieb.
In dieser Zeit stiess Yaghi auf ein Forschungsgebiet, für welches Richard Robson in Australien Pionierarbeiten geleistet hatte. Robson hatte erkannt, wie sich aus Metallionen und organischen Molekülen grössere Strukturen zusammensetzen lassen – eine Art Kristalle mit vielen winzigen Hohlräumen.
Das Potenzial dieser künstlichen Kristalle, in den Poren fremde Substanzen zu speichern, schien riesig zu sein. Doch Forscher haderten mit einem ärgerlichen Problem: Die Kristalle waren nicht stabil, sie fielen leicht wieder in sich zusammen.
Künstliche Kristalle mit enormer Porosität
In den 1990er Jahren experimentierten Chemiker darum mit vielen verschiedenen Substanzen, um das Problem der Instabilität zu überwinden. Yaghi und sein Team hatten schliesslich Erfolg: Es gelang ihnen, sogenannte metallorganische Gerüstverbindungen zu entwickeln, die nicht nur stabil waren, sondern sich auch sehr gezielt zusammenbauen liessen. «Wie Lego», sagte Yaghi einmal in einem Interview. Vor allem für die neuartigen Konstruktionsmethoden ist der Wissenschafter bekanntgeworden.
Die metallorganischen Gerüste besitzen einen unschätzbaren Vorteil: Ihre Porosität ist enorm gross. 1999 stellten Yaghi und sein Team ein Material vor, das pro Gramm eine Porenoberfläche von ungefähr 3000 Quadratmetern besitzt.
Der Clou: In den Hohlräumen solcher Materialien lassen sich alle möglichen Substanzen speichern – nicht nur Wasser, sondern auch Gase wie Kohlendioxid oder Wasserstoff.
Startups sollen drei Klimaprobleme lösen
In den Jahren darauf entwickelte Yaghi, der seit 2006 an der University of California forschte, immer neue Varianten von Gerüstverbindungen. Aber er dachte auch schon intensiv über die praktische Nutzung der vielversprechenden Materialien nach.
2020 gründete der Chemiker das Startup Atoco. Diese Firma will der Luft Kohlendioxid entziehen und Wasser aus ihr gewinnen. Im Jahr darauf hob Yaghi das Startup H2MOF aus der Taufe, welches mithilfe von Gerüstverbindungen molekularen Wasserstoff speichern möchte, einen vielversprechenden Energieträger der Zukunft. Die beiden Startups widmen sich also drei Aufgaben, die im Zeitalter des Klimawandels immer wichtiger werden: der Bekämpfung des Treibhauseffekts, der Gewinnung kostbaren Wassers und der Speicherung von Energie.
Atoco hat bereits angekündigt, den Entzug von Wasser aus der Luft bald kommerzialisieren zu wollen. Die Technologie funktioniert sogar in der staubtrockenen Luft der Wüste – zum Beispiel in Regionen wie jener, in der Yaghi aufgewachsen ist.
Grundsätzlich eignen sich metallorganische Gerüstverbindungen für viele weitere Anwendungsgebiete: Sie könnten etwa dabei helfen, Sensoren und Batterien zu entwickeln, schädliche Substanzen wie die Ewigkeitschemikalien PFAS aus der Umwelt zu filtern oder Medikamente zu verabreichen. Darauf wies die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften am Mittwoch in ihrer Begründung der Preisvergabe hin.
Auf Yaghi regneten schon in den vergangenen Jahren etliche Wissenschaftspreise hinab, zum Beispiel erhielt er 2024 den von der internationalen Balzan-Stiftung vergebenen Balzan-Preis. Die Auszeichnung mit dem Nobelpreis für Chemie kommt also keineswegs unerwartet. Dass dem Sohn einer armen arabischen Flüchtlingsfamilie diese höchste Ehre der Naturwissenschaften zuteilwird, ist nichtsdestoweniger ein Ereignis mit grossem Seltenheitswert.