Drohender Bergsturz im Wallis: «Die Gefahr ist noch nicht gebannt»
Oberhalb des Walliser Dorfes Blatten ist der Berg in Bewegung. Nun mussten alle Einwohner ihre Häuser verlassen. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
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Am Kleinen Nesthorn im Lötschental sind am Montag weitere Teile des Felses abgebrochen und auf den Gletscher gestürzt. Bild: PD
Oberhalb des Walliser Dorfes Blatten ist der Berg in Bewegung. Nun mussten alle Einwohner ihre Häuser verlassen. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
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4 Min. • • Kevin Weber, «Neue Zürcher Zeitung»
Was ist passiert?
Es blieb lediglich eine halbe Stunde Zeit. In Blatten im Walliser Lötschental musste am Montagmorgen plötzlich alles schnell gehen. «Möglichst das Nötigste packen und sofort die Häuser räumen», teilte die Behörde um kurz nach 9 Uhr 30 über die Plattform Alertswiss mit. Bis um 10 Uhr musste sich die Bevölkerung in der Mehrzweckhalle einfinden. Dort folgten weitere Informationen durch den Gemeinderat. Und die waren einschneidend: Alle Bewohner von Blatten müssen weg, und zwar schnell. Schon bis um 11 Uhr 30 mussten sie das Dorf verlassen.
Blatten ist das hinterste Dorf im Lötschental und liegt auf 1540 Meter über dem Meer. Die Situation hatte sich bereits in den vergangenen Tagen zugespitzt. Der Berg war in Bewegung, es kam zu Felsabstürzen – nun droht einmal mehr ein Bergsturz.
Hoch oben im Gebirge hat sich vermehrt Gestein gelöst. Beim Kleinen Nesthorn – auf über 3000 Metern über Meer – sind Felsen auf den Birchgletscher gestürzt und haben einen Teil des Gletschers mitgerissen. Das löste einen Murgang aus, 30 000 Kubikmeter Gestein rutschten in Richtung Tal und kamen 500 Meter oberhalb des Flusses Lonza ausserhalb des Dorfes zum Stillstand. Schon am Samstagabend mussten deshalb 92 Bewohner von Blatten evakuiert werden. Am Montag hat sich die Gefahr nochmals verschärft.
Matthias Ebener, der Informationschef des Führungsstabes, sagte zu SRF: «Die Lage ist sehr akut. Es ist allen klar, dass der Felssturz kurz bevorsteht.»
Wie viele Personen müssen ihre Häuser verlassen – und wo kommen sie unter?
Der Evakuationsaufruf gilt für insgesamt 283 Personen. Die Einwohner der beiden Weiler Wyssenried und Eisten sind davon nicht betroffen, sie können in ihren Häusern bleiben.
Die Ausweitung des Evakuationsaufrufes erfolge auch, weil erwartet werde, dass das herunterkommende Material mehr Platz benötige als bislang angenommen, sagte Alban Brigger von der Dienststelle für Naturgefahren an einer Medienkonferenz am Montagnachmittag.
Viele Bewohner von Blatten kommen laut SRF bei Bekannten oder Verwandten unter. Die Gemeinden im Tal suchen zudem Unterkünfte für die betroffenen Personen. Die Verantwortlichen gehen aufgrund der Bewegungen am Berg nicht davon aus, dass die Evakuation noch Monate andauert. Weil derzeit Nebensaison herrscht, sind zudem kaum Feriengäste betroffen.
Warum droht der Berg abzustürzen?
Der Birchgletscher steht seit den 1990er Jahren unter Beobachtung. Die Gemeinde vermutet, dass die bevorstehende Schneeschmelze ab etwa 2500 Metern Höhe die Gefährdungslage verursacht habe. Laut Alban Brigger hat sich die Bewegungsrichtung des Gesteins verändert. Bei einem massiven Abbruch auf den Gletscher drohe eine Kettenreaktion. «Der Bergsturz würde auf den Gletscher fallen, der Gletscher löste sich in Wasser auf, und das führte zu einem schnellen Murgang, der grosses Schadenspotenzial hätte», sagte Brigger dem «Walliser Boten».
Die Situation in Blatten erinnert an das Schicksal der Bündner Gemeinde Brienz. Dort droht seit Jahren ein rutschender Berghang das kleine Dorf zu verschütten. Die Bewohner mussten ihre Heimat schon mehrmals verlassen. Sie dürfen seit November nur sporadisch in ihre Häuser zurückkehren. Eine erhoffte langfristige Entspannung der Lage blieb bislang aus. Eine Umsiedlung wird immer wahrscheinlicher.
Der Berg oberhalb von Blatten bewegt sich. Blick auf die Ostflanke im Bereich Nesthorn/Birchgletscher. Bild: Regionaler Führungsstab RFS Lötschental
Wann wird der Berg kommen?
Kantonsgeologen haben die Situation am Wochenende neu analysiert. Sie haben Kameras und GPS-Geräte am Berg installiert und festgestellt, dass es am Berg sehr viel Bewegung gibt. Matthias Ebener spricht im «Walliser Boten» von mehreren Metern pro Tag. «Vor wenigen Tagen war es noch ein Meter pro Tag. Das Risiko steigt immer mehr.»
Erkenntnisse von einem Erkundungsflug hätten die Bewegungen im Hang oberhalb des Dorfes bestätigt. Und auch Alban Brigger von der Dienststelle für Naturgefahren bestätigte an der Medienkonferenz am Montag, dass am Kleinen Nesthorn neue Risse sichtbar sind. Über die Nacht sei es zu neuen Verschiebungen gekommen. Das Gelände habe sich seit Freitag horizontal um mehr als 17 Meter und vertikal um mehr als acht Meter verschoben. Ein GPS-Messpunkt sei zeitweise komplett ausgefallen. Das sei ein Hinweis auf die Gewalt der Bewegungen.
Am Montagmittag ist es dann zu einem weiteren Felsabbruch mit einem geschätzten Volumen von etwa 100 000 Kubikmeter gekommen. Die Behörden hoffen, dass der Berg weiterhin in kleinen Schüben ins Tal stürzt. «Es ist aber klar, dass der ganze Berg hinunterkommen wird», sagte Brigger. Aufgrund der genannten exponentiellen Entwicklung sei das aber eine Frage von Stunden, nicht von Tagen. Insgesamt drohen bis zu drei Millionen Kubikmeter Material herunterzurutschen. Deshalb sprechen die Behörden von einem möglichen Bergsturz.
Werden die Gesteinsmassen das ganze Dorf erreichen?
Mit diesem Volumen könne man nicht abschätzen, wie weit die Felsmassen Richtung Dorf vordringen würden, sagte Alban Brigger. Darum habe man die Evakuierung des gesamten Dorfes angeordnet.
Kevin Weber, «Neue Zürcher Zeitung» (20.05.2025)
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