Sebastian Kahlert kennt Nachhaltigkeit von beiden Seiten: Als Leiter des Netto-Null Programmes an der ETH Zürich und als Jurymitglied des «Sustainable Shapers» Awards. Bild: zvg
«Selbstzufriedenheit ist unser grösstes Hindernis»
Als Jury-Mitglied des «Sustainable Shapers» Awards zeigt Sebastian Kahlert, wie unternehmerische Weitsicht und Nachhaltigkeit zusammenwirken. Im Interview erklärt er, wo Firmen ansetzen können – strategisch wie im Alltag.
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«Selbstzufriedenheit ist unser grösstes Hindernis»
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• • Anja Ruoss
Gab es einen Moment, in dem Sie Ihre Haltung zur Nachhaltigkeit grundsätzlich überdenken mussten?
Sebastian Kahlert: Ja. Als ich meine Rolle an der ETH antrat, glaubte ich, dass wir vor allem technische Lösungen zur Dekarbonisierung brauchen. Aber ich erkannte schnell, dass institutionelle Kultur, Governance-Strukturen und individuelle Einstellung und Verhalten genauso wichtig sind – wenn nicht sogar wichtiger. Das verlagerte meinen Fokus darauf, Nachhaltigkeit in alltägliche Entscheidungen einzubetten und machte mich aufmerksamer für die soziale Dimension der Transformation.
Was bedeutet nachhaltige Führung für Sie persönlich?
Kahlert: Nachhaltige Führung bedeutet langfristiges Denken, auch wenn kurzfristige Belastungen hoch sind. Für mich bedeutet das, aufmerksam zuzuhören, transparent zu handeln und die richtigen Bedingungen zu schaffen, damit andere Verantwortung übernehmen können. An der ETH bedeutet das, Studierende, Forschende und Mitarbeitende zu befähigen, zu unseren Netto-Null-Zielen beizutragen – und sicherzustellen, dass Nachhaltigkeit Teil strategischer Entscheidungen ist, nicht nur von Nebenprojekten.
«Einmalige Projekte sind grossartig; Nachhaltigkeit in Strukturen einzubetten ist besser.»
Sebastian Kahlert
Leiter des Netto-Null Programmes an der ETH Zürich
Wie gelingt es Ihnen, Nachhaltigkeit mit Wirtschaftlichkeit in Einklang zu bringen?
Kahlert: In einer öffentlichen Institution wie der ETH geht es weniger um Rentabilität und mehr um Verantwortung, Kosten-Nutzen-Verhältnis und Wirkung. Wir suchen nach Win-Win-Möglichkeiten: Zum Beispiel reduziert eine Verbesserung der Energieeffizienz sowohl Emissionen als auch Betriebskosten. Aber wir investieren auch dort, wo es einfach das Richtige ist, besonders in Bereichen wie Klimabildung und Forschung. Die langfristige Rendite kommt durch Wirkung, nicht durch Gewinnmarge.
Wo sehen Sie aktuell den grössten Hebel für nachhaltiges Wirtschaften in Ihrer Branche?
Kahlert: In der Beschaffung und Infrastruktur: An der ETH machen Scope 3-Emissionen – besonders aus eingekauften Gütern und Dienstleistungen – den grössten Anteil des Fussabdrucks aus. Indem wir überdenken, wie wir unseren Campus entwickeln, Laborausrüstung nutzen und Konferenzen organisieren, können wir ganze Lieferketten beeinflussen. Und weil die ETH in die Gesellschaft ausstrahlt, können unsere Entscheidungen Standards über die Wissenschaft hinaus beeinflussen.
«Die Herausforderung besteht darin, von schrittweisen Verbesserungen zu transformativem Wandel überzugehen – ohne auf perfekte Daten oder politischen Konsens zu warten.»
Sebastian Kahlert
Leiter des Netto-Null Programmes an der ETH Zürich
Gibt es eine Entscheidung, die Sie als Führungskraft getroffen haben, auf die Sie in puncto Nachhaltigkeit besonders stolz sind?
Kahlert: Ich bin stolz darauf, dabei mitgewirkt zu haben, Nachhaltigkeit in die Kern-Governance-Prozesse der ETH zu integrieren. Zum Beispiel sicherzustellen, dass Dekarbonisierungspfade mit unserer Finanzplanung abgestimmt sind – und durch klare Kennzahlen und Verantwortlichkeiten unterstützt werden. Das mag bürokratisch klingen, aber so wird Wandel systemisch. Einmalige Projekte sind grossartig; Nachhaltigkeit in Strukturen einzubetten ist besser.
Was sind aus Ihrer Sicht die grössten Hürden für nachhaltige Transformation in der Schweiz?
Kahlert: Selbstzufriedenheit. Wir sind ein wohlhabendes Land mit relativ niedrigen direkten Emissionen pro Kopf, und das schafft ein trügerisches Sicherheitsgefühl. Aber unser konsumbasierter Fussabdruck erzählt eine andere Geschichte. Die Herausforderung besteht darin, von schrittweisen Verbesserungen zu transformativem Wandel überzugehen – ohne auf perfekte Daten oder politischen Konsens zu warten. Und in Institutionen ist es oft die Trägheit etablierter Routinen.
Welche Innovation, Technologie oder Initiative überzeugt Sie aktuell besonders?
Kahlert: Was mich am meisten begeistert, ist nicht nur eine Technologie, sondern die Integration digitaler Tools mit Nachhaltigkeitsbemühungen. Zum Beispiel die Kombination von Echtzeitdaten aus Gebäudesystemen mit Vorhersagemodellen zur Optimierung des Energieverbrauchs, oder die Nutzung von Lebenszyklusdaten bei Beschaffungsentscheidungen. Und ich bin inspiriert vom Potenzial der ETH selbst als ‹Living Lab› – in dem Lösungen auf dem Campus getestet und zu präsentiert werden.
«Wir müssen von einer Erzählung des Verzichts zu einer von Chancen und Verantwortung wechseln.»
Sebastian Kahlert
Leiter des Netto-Null Programmes an der ETH Zürich
Wer oder was inspiriert Sie persönlich in Ihrem Engagement für eine nachhaltige Zukunft?
Kahlert: Ich bin inspiriert von den ETH-Studierenden, die den Status quo hinterfragen und frische Energie in die Nachhaltigkeitsdiskussion bringen. Ihre Entschlossenheit, Kreativität und ihr Dringlichkeitsgefühl erinnern mich daran, warum diese Arbeit wichtig ist. Ausserdem schöpfe ich Inspiration aus interdisziplinären Denkern, die Wissenschaft, Politik und Gesellschaft verbinden – Menschen, die Komplexität nicht als Barriere sehen, sondern als Quelle der Erkenntnis.
Welchen Nachhaltigkeitsmythos würden Sie gern ein für alle Mal aus der Welt schaffen?
Kahlert: Dass Nachhaltigkeit immer ein Kompromiss ist. Ja, es gibt schwierige Entscheidungen. Aber es als ‹Nachhaltigkeit vs. Profit› oder ‹Nachhaltigkeit vs. Freiheit› zu framen, ist irreführend. Oft ist die nachhaltigste Wahl auch die innovativste, widerstandsfähigste oder zukunftssicherste. Wir müssen von einer Erzählung des Verzichts zu einer von Chancen und Verantwortung wechseln.
Welcher einfache, aber wirksame Nachhaltigkeitstipp hat sich in Ihrem Führungsalltag bewährt?
Kahlert: Stellen Sie die Nachhaltigkeitsfrage früh und oft. Ob es eine neue Strategie, ein Einkauf oder eine Veranstaltung ist – einfach zu fragen ‹Wie passt das zu unseren Klimazielen?› kann das Gespräch verändern. Es signalisiert, dass Nachhaltigkeit nicht eine Checkbox am Ende ist, sondern eine Brille, durch die wir alles bewerten. Diese kleine Gewohnheit kann grosse kulturelle Auswirkungen haben.
Sustainable Shapers 2025
Sustainable Switzerland, die Nachhaltigkeitsplattform der NZZ, zeichnet erstmals die «Sustainable Shapers» der Schweiz aus: Herausragende Persönlichkeiten, welche die nachhaltige Entwicklung gestalten und vorantreiben. Ausgezeichnet werden Pioniere und Vordenker, die mit ihrem Engagement und innovativen Konzepten starke Zeichen für eine nachhaltige Zukunft setzen – ökologisch , unternehmerisch und sozial.
Eine unabhängige Jury kürt die «Sustainable Shapers» in den drei Kategorien «Leadership & Transformation», «Knowledge & Opinion» sowie «Vision & Innovation». Die Auszeichnung erfolgt am Sustainable Switzerland Forum am 2. September 2025 in Bern.
«Wir dürfen die Verantwortung nicht allein den Konsumenten aufbürden»
Wirtschaft
«Genossenschaften haben Zukunft»
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Preisturbulenzen auf den Strommärkten
Dieser Artikel behandelt folgende SDGs
Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, vereinbart von den UN-Mitgliedsstaaten in der Agenda 2030. Sie decken Themen wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, sauberes Wasser, erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, Klimaschutz und den Schutz der Ozeane und der Biodiversität ab.