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In Colorado, USA, prallen alte und neue Energierealitäten aufeinander. Präsident Joe Biden investiert Milliarden, um die USA zu einer grünen Industrienation zu machen. Bild: Leah Millis / Reuters

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Ein grüner Bauboom für das Klima auf Kosten des Naturschutzes? Wie vier Umweltschützer mit dem Dilemma umgehen

Immer wieder bremsen Umweltschützer den Ausbau der erneuerbaren Energien. Dabei werden diese im Kampf gegen den Klimawandel gebraucht. Die Abwägung zwischen Klima und Natur fällt je nach Weltregion unterschiedlich aus.

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In den USA und in Europa kann man dieser Tage beobachten, wie der Nimby-Widerstand den Ausbau der erneuerbaren Energien bremst.«Nimby» steht für «not in my backyard» – «nicht in meinem Hinterhof» – und bezeichnet den lokalen Widerstand gegenüber neuen Bauprojekten in der eigenen Nachbarschaft.

Dahinter stehen unter anderem ästhetische Vorlieben, der Naturschutz, finanzielle Eigeninteressen, Angst vor Veränderungen oder politische Instrumentalisierung. Betroffen sind neue Stromtrassen, Windparks oder Solaranlagen. Der Widerstand wird dabei oft von lokalen Umweltaktivisten und Ortsverbänden von Naturschutzorganisationen mitgetragen oder organisiert.

Das ist natürlich widersprüchlich. Die Klimaziele können nur mithilfe eines drastischen Ausbaus erneuerbarer Energien erreicht werden. Darauf weisen Studien regelmässig hin. Europa ist darüber hinaus auch noch die Region in der Welt, die sich besonders ambitionierte grüne Ziele gesetzt hat und global auf den Einsatz emissionsarmer Technologien drängt.

Die Umweltbewegung ist in der Frage der erneuerbaren Energien von einer gewissen Zerrissenheit und Inkonsistenz geprägt. Das beschäftigt auch Pioniere der Bewegung: In welchem Ausmass muss man als Aktivist einen Bauboom unterstützen, der möglicherweise mit dem Schutz der Umwelt und Biodiversität kollidiert? Darf man auf Wachstum statt auf «degrowth» setzen? Wir stellen vier Positionen von Aktivisten aus unterschiedlichen Weltregionen vor.

Der Pragmatiker: Bill McKibben

«Yes in Our Backyards». So titelte der Amerikaner Bill McKibben einen Artikel im linken amerikanischen Blatt «Mother Jones» im Juni. Er forderte darin einen neuen Umgang mit dem Bauen. Es sei an der Zeit, dass «Progressive, wie ich einer bin, lernen, den grünen Bauboom zu lieben».

McKibben ist einer der Grossen in der amerikanischen und internationalen Umweltbewegung. Seine erfolgreichen Kampagnen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Infrastruktur blockieren. Dazu gehört die Keystone-XL-Erdölpipeline in den USA. McKibben unterstützt Aktionen in Europa, die darauf abzielen, Kohlekraftwerke zu schliessen und in Afrika neue Pipelines zu stoppen.

Er sagt, Nein zu sagen, sei eine zentrale Qualität eines jeden Aktivisten, der gegen mächtige Unternehmen und Regierungen aufbegehre. Gleichzeitig stünden wir an einem Scheideweg in der Klimapolitik. Der Weltklimarat habe erst vergangenes Jahr wieder aufgezeigt, wie wichtig es für das Erreichen der Klimaziele sei, Emissionen in den kommenden Jahren stark zu reduzieren.

Es sei an der Zeit, Ja zu sagen, sagt McKibben. Wozu genau? Zu Solarpaneelen und Windturbinen, neuen Fabriken, um Batterien herzustellen, und Minen, um Lithium abzubauen, wie auch neuen, bezahlbaren Wohnräumen. McKibben plädiert für ein Umdenken unter Umweltaktivisten. Die einzige Möglichkeit, die Auswirkungen des Klimawandels zu mindern, bestehe darin, in grüne Technologien zu investieren.

Das wird natürlich Gegenden in ganz Amerika treffen. Stromleitungen werden durch Felder gebaut werden müssen, Bahnstrecken Vorfahrtberechtigung erhalten. Umweltaktivisten müssten das zumindest dulden, so McKibben. Das gelte vor allem für ein Land wie die USA, die während der letzten Jahrzehnte rund ein Viertel des gesamten CO₂ in die Atmosphäre gepumpt haben.

Das bedeute natürlich nicht, dass jedes Bauprojekt geschluckt werden müsse. McKibben schlägt eine einfache Rechnung vor: «Wenn etwas den Klimawandel verschlimmert, sollten wir die Finger davonlassen.»

Der Konfliktlöser: Wendel Trio

In der Frage von Klimaschutz und Naturschutz «gibt es einfach Konfliktpotenzial», sagt Wendel Trio. Vor allem auf der lokalen Ebene. In Europa sei das unter den NGO eine besonders schwierige Debatte.

«Wir werden akzeptieren müssen, dass es auch einmal Umweltfolgen geben wird», sagt er im Gespräch. «Wollen wir auf 100 Prozent erneuerbare Energien kommen, müssen wir sehr viel Infrastruktur bauen.»

Der Belgier leitete das Climate Action Network Europe (CAN) bis 2021 über zehn Jahre lang. CAN ist eine Organisation, die Umwelt- und Klima-NGO aus ganz Europa unter einem Dach versammelt.

Die grosse Frage, die sich Aktivisten jetzt stellen müssten, sei die Prioritätensetzung. Gehe es um das langfristige Ziel, Emissionen zu reduzieren, Temperaturen zu stabilisieren und somit auch die Biodiversität zu schützen – oder kurzfristige Ziele des lokalen Artenschutzes? «Langfristig gesehen ist der Kampf gegen den Klimawandel gut für die Biodiversität», so Trio. Gleichzeitig hätten Umweltschützer recht, auf den Artenschutz zu pochen.

NGO wie der deutsche Naturschutzbund (Nabu) kontern, dass Klimaschutz nicht auf dem Rücken der Natur ausgetragen werden dürfe. Stattdessen müssten Flächen für Anlagen so ausgesucht werden, dass sie die verschiedenen Anliegen nicht gegeneinander ausspielten. Das sei mit planungstechnischen Vorkehrungen möglich, so der Nabu-Präsident Jörg-Andreas Krüger gegenüber der NZZ.

Neue Lösungsansätze zeichnen sich schon heute ab. Unternehmen, Netzbetreiber und NGO kooperierten in gemeinsamen Initiativen, sagt Trio. Ein Beispiel ist die Renewables Grid Initiative, zu der neben deutschen Teilnehmern auch Schweizer Unternehmen gehören. Die Windindustrie bemüht sich besonders darum, zu beweisen, dass Windprojekte mit der Natur zusammengedacht werden können.

Die Branche steht erst am Anfang eines möglichen Ausbau-Booms der Windkraft auf See. Widerstand käme da sehr ungelegen. Viele Regierungen in Europa forcieren Offshore-Windparks, gerade weil die Turbinen weit weg von dem Sichtfeld skeptischer Bürgerinnen und Bürger aufgestellt werden.

Die Entwicklungsexpertin: Avantika Goswami

In einem Land wie Indien ist die Nimby-Frage etwas komplizierter. Das Land habe gerade einmal einen Bruchteil der für die wirtschaftliche Entwicklung und die Energiewende benötigten Infrastruktur, sagt Avantika Goswami von der indischen Denkfabrik und NGO Centre for Science and Environment.

Die Regierung verfolge aus diesem Grund vor allem ein Ziel: die notwendigen Anlagen und Fabriken zu bauen. «Die Priorität ist der Ausbau von Autobahnen und Strassen, von Häfen, von Stromnetzen. Die Regierung verfolgt diese Ziele nicht notwendigerweise, um die Klimaziele zu erreichen, sondern um aus Indien ein Industrie- und Gewerbezentrum zu machen.»

Damit geht auch der Ausbau der Energieinfrastruktur einher. Und hier setzt Indien neben der heimischen Kohle vor allem auf die Solarkraft, aber auch auf Wind an Land. Laut internen Hochrechnungen werde Indien seine Solar- und Windkapazitäten bis zum Jahr 2030 gar vervierfachen, so Goswami. «Es wird definitiv aggressiv nach diesem Ziel gestrebt.»

Dazu gehört der Ausbau des Stromnetzes, damit die erneuerbaren Strommengen auch wirklich in die Häuser und Fabriken fliessen können. Goswami rechnet allerdings mit Schwierigkeiten.

«Die Bauambitionen kollidieren teilweise mit unseren Ansprüchen, fragile Ökosysteme zu schützen und auch die Gemeinschaften, die in diesen Landschaften leben», sagt sie. Die Suche nach Landflächen für Klimaprojekte dürfe nicht dazu führen, dass indigenen Gemeinden ihr Land weggenommen werde.

Aber: ästhetischer Widerstand gegen ein neues Solarprojekt wie im pittoresken englischen Hinterland? So etwas gebe es in Indien (noch) nicht. Noch liege der Fokus auf der wirtschaftlichen Entwicklung, auf Wachstum und Wohlstand, so Goswami.

Der Gerechtigkeitskämpfer: Mohamed Adow

«Infrastrukturprojekte schaffen dann grosse Probleme, wenn die betroffene Gemeinde nicht davon profitiert oder die sozioökonomischen und kulturellen Praktiken völlig verändert werden», sagt Mohamed Adow.

Das betrifft nicht nur Kenya, sondern ist wohl allgemeingültig. Die Beteiligung der betroffenen Menschen, unter anderem durch die finanzielle Teilhabe, gilt auch in Deutschland als Schlüssel für erfolgreiche Projekte.

Der Kenyaner ist seit Jahren an den internationalen Klimaverhandlungen beteiligt. Vor ein paar Jahren gründete er die NGO Power Shift Africa, um die Energiewende auf dem Kontinent voranzutreiben. «Die Menschen haben ein Recht darauf, an der Planung und der Umsetzung beteiligt zu werden», so Adow.

In Afrika sei die Priorität, notwendige Infrastruktur überhaupt erst zu bauen, so Adow. Alleine in Kenya haben mehr als 20 Prozent der Bevölkerung keinen Anschluss an das Stromnetz – auch wenn das schon sehr viel weniger Menschen sind als noch vor ein paar Jahren.

Kleine und grosse Energieprojekte seien notwendig, um den Menschen Zugang zu Dienstleistungen zu ermöglichen, sie gegen die Hitze und andere Auswirkungen des Klimawandels zu wappnen und die regionale industrielle Entwicklung zu fördern, sagt Adow.

Kenya setzt stark auf den Ausbau der erneuerbaren Energien, allen voran Solar, Geothermie und Wind. Bis 2030 sollen erneuerbare Energien 100 Prozent der Energieversorgung ausmachen, dazu verpflichtete sich Präsident William Ruto bei seiner Amtseinführung im Jahr 2022.

Adow sagt, Windenergieprojekte hätten gezeigt, dass sie mit Praktiken der Landnutzung, etwa der Weidewirtschaft und Viehzucht, vereinbar seien. Widerstand gebe es dagegen bei grossen Wasserkraftprojekten und Biokraftstoffen – wegen ihrer Auswirkungen auf die Natur.

Ganz abschütteln kann Adow eine grundsätzliche kritische Haltung gegenüber grossen Infrastrukturen nicht: Neue Projekte dürften die bestehenden Machtgefälle in Afrika nicht verschärfen.

Kalina Oroschakoff, «Neue Zürcher Zeitung» (13.08.2023)

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